Ostersonntag ist perfekt, um den Staat zu erpressen. Viele Menschen wollen zu oder weg von ihren Familien und sind auf den Autobahnen Perús unterwegs. Wenn man ein gewöhnlicher Minenarbeiter ist, unzufrieden mit seinen Arbeitsbedingungen – den niedrigen Löhnen, den fehlenden Sicherheitsstandards und dem Umstand, dass drei Kollegen in einer Mine in Arequipa umgekommen sind – dann ruft man seine paar hundert Kumpel zusammen und streikt. Gemeinsam errichtet man kurzerhand morgens um vier eine Barrikade auf der Panamericana, der wichtigsten Nord-Süd-Verbindung Südamerikas, kurz vor Chala auf dem halben Weg zwischen Arequipa und Lima.

Was zunächst nach einem kurzen Streik aussieht, dauert. Stunden. Es bildet sich ein Stau über mehrere Dutzende Kilometer. Die Polizei ist recht schnell da, aber die Presse lässt etwas auf sich warten. Die ist wichtig. Denn was bringt schon ein Protest, wenn keiner was davon mitbekommt?

Die ersten beiden Stunden schlafen wir einfach. Der Tumult draußen geht uns nichts an. Um acht gibt’s Bordfrühstück im Bus. Die Stimmung ist noch entspannt. Erst als die drückende Mittagshitze langsam über die Hügel kriecht und sich immer noch nichts tut, werden einige ungeduldig. Das erste Kind quengelt.

In der Ferne sehen wir die Hauptverkehrsstraße von Chala, die einzige Verbindung nach Lima. Mittlerweile ist es elf. Menschen rotten sich zusammen, Armeefahrzeuge preschen ins Zentrum. Helikopter kreisen über der Stadt. Schüsse. Die Ersten kämpfen sich mit Sack und Pack zu Fuß Richtung Süden, auf unserer Seite der Stadt. Ein alter Mann, der sein kleines Kätzchen in seiner Reisetasche mit sich trägt, berichtet von zwei Toten. Selbst gesehen habe er sie. Im Radio sprechen sie erst von sieben, dann von acht. Mehr Information gibt es nicht.

Die Stimmung kippt und es passiert, was in Krisensituationen immer passiert: Menschen werden nervös und einer schwingt sich zum Anführer auf. In unserem Fall eine Frau um die vierzig im hellblauen Polo und mit strähnigem Haar. Sie lamentiert laut, streitet sich mit LKW-Fahrern und sammelt Unterschriften von allen, die zurück nach Arequipa wollen. Eine Fahrt von mehr als acht Stunden. Die andere Hälfte, so auch ich, denkt gar nicht daran umzudrehen. Wir wollen weiter.

Der Rückweg ist dicht. Angeblich versperren Barrikaden in einigen Ortschaften hinter uns die Straßen. Nach Lima sind es noch acht Stunden. Was dort los ist, wissen wir nicht. Nazca, rund zwei Stunden nördlich von Chala, soll auch dicht sein. Vielleicht aber auch nicht. Die ersten Frauen rufen unter Tränen die Polizei. Kinder seien im Bus, Schwangere.

Wir fahren zur Sicherheit in ein nahegelegenes Restaurant in den Bergen. Laut einem Peruaner ein bekannter Umschlagplatz für Gold, das die Arbeiter schwarz aus den Minen holen. Rund 20 Reisebusse und dutzende Lastwagen warten schon dort. 1000 Menschen wollen Essen und trinken. Das Restaurant ist schnell ausverkauft. Um acht gibt es nichts mehr. Schlangestehen für ein bisschen Wasser.

Am nächsten Morgen kehren viele Busse um – zurück nach Arequipa. Zu unbeständig sei die Situation. Viele fahren mit, einige hoffen auf eine schnelle Lösung und bleiben. Angeblich sollen Regierungsgesandte kommen, die im besetzten Chala schnell Ordnung schaffen. So lange wollen wir nicht warten. Wir wollen weiter.

Die Bewohner von Chala wittern gutes Geld und richten Shuttles ein. Für 20 Sol transportieren sie Touristen, die nach Lima wollen, an eine sichere Stelle im Ort – gleich neben dem Friedhof.

Ein Schweizer Entwicklungshelfer und ich nutzen die Chance und fahren mit. Wir laufen in Gluthitze durch die Straße Chalas, wo sich gestern noch wütende Arbeiter zusammengerottet haben und Schüsse gefallen sind. Vorbei an ausgelaugten Protestlern, die auf zerfetzten Decken unter Lastwagen Schutz vor der brennenden Sonne suchen. Sie haben ihre blauen Mineros-Helme tief ins Gesicht gezogen. Ihre trüben Augen spiegeln die Erschöpfung der letzten 36 Stunden wieder. Der Geruch von verbranntem Gummi liegt in der Luft.

Vor einem Lebensmittelladen sammelt sich ein Pulk derer, die noch nicht aufgegeben haben. “Morgen ziehen wir nach Lima”, ruft einer zu der Menge. Von der Regierung ist noch niemand gekommen. Zu unwichtig ist der kleine Ort, an dem gerade heute zufällig nichts mehr geht. Was mit den 200 Menschen in den Bergen passiert, die immer noch darauf warten, weiter zu kommen, interessieren nicht. Der Staat lässt sich nicht so leicht erpressen.

Wir hatten Glück und haben auf der anderen Seite von Charla einen Bus gefunden, der nach Lima umgekehrt ist. Mit 44 Stunden Verspätung kommen wir in Lima an. Entgegen aller Behauptungen war unser Weg frei.

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