Besonders seltsam sind diie Tage, an denen man aus dem Haus geht, elf Stunden später wieder heimkommt und viele Menschen aus der eigenen Biographie wiedergesehn hat, aber nicht alle davon richtig einzuordnen weiß. Menschen aus der Vergangenheit, die man nach Jahren erst wieder zu Gesicht bekommt, gliedern sich in unterschiedliche Kathegorien:

Die naive Göre
Ist man jung, ein bisschen klug und steht unter finanziellem Druck gibt man in der Regel Nachhilfe. Meist Englisch oder Deutsch (nie Mathe, man möchte ja keinen irreparablen Schaden anrichten). In meinem Fall hatte ich meistens kleine vorpubertäre Mädels im Alter von 12 oder 13 Jahren, die sich an meinem fulminanten Wissen mehr oder minder laben wollten. Damals trugen sie noch Pferdeschwanz und rosa Kaputzenpullies. An den Rucksäcken hingen kleine Diddl-Mäuse und an Make up war noch garnicht zu denken. Heute, vier Jahre später, sehn sie allesamt aus wie Uschi vom Sonnenstudio. Haare bis aufs Äußerste gebleicht, die haut ledrig von künstlichem UV-Licht und billiger Gesichtspaste. Statt Kuscheltieren an Rucksäcken hängen Swarovski-Kristall-Imitat-Anhängerchen an einer winzigen schwarzen Handtasche, die mehr als Achselschweißsammelbhälter dient, als zum Verstauen von Gebrauchsgegenständen. Kaputzenpullies tragen sie immer noch. Aber etwas kürzere. Man muss ja das Bauchpiercing sehen. Und da dachte man, man hätte Werte vermittelt…

Der Urproll aus Urzeiten
Grundschule ist auch bei mir schon verdammt lange her. Trotzdem erkennt man auf der Straße Leute wieder, mit denen man Lesen, Schreiben und (ein bisschen) Rechnen gelernt hat. Also ich zumindest. Bei dem Gegenüber bin ich mir nicht sicher. Das gleiche Boxergesicht wie früher, nur vernarbter und auf die typische Small-Talk-Frage hin, was er denn so mache, kriegt man als Antwort in einem Mix aus russich, türlisch und deutsch: „Joa nix…arbeitslos. Aber isch und meine Perle haben da so Geschäft am laufen. Geht ganz korrekt. Immer unterwegs und so.“
Danke für das Gespräch.

Das Luxusgut
Sitzt man so im Zug und sieht sein Gegenüber so an, dann denkt man sich was für ein unglaublich schöner Mann das doch ist. Markantes Gesicht, 3-Tage-Bart, tolle Frisur, schöne Hände, lässiger Klamottenstil, eben das volle Programm. Klug noch dazu. Studiert scheinbar Medizin, den Fachbüchern nach zu urteilen, in die er gerade hineinkriecht. Und dann grübelt man darüber nach woher einem der Beau so bekannt vorkommt. Magazin-Cover? Naja, im Odenwald eher unwahrscheinlich. Heiße Nacht von vor drei Wochen? Nein, auch das kann man getrost ausschließen. Man kramt in seinem Gedächtnis wie an einem Wühltisch im Kaufhof und zieht ganz ganz unten schließlich den Tigertanga mit roter Spitze hervor (im übertragenen Sinne): Der Kleine aus der 7. Klasse, der nach einem halben Jahr schon wieder weg war! Oder ist ers doch nicht? Ja, man könnte nachfragen. Traut sich aber nicht. Zu schöne Menschen sollten nicht belästigt werden.