Ich habe nie im Nordend gelebt. Hier im Nordosten Frankfurts zu leben, das bedeutet: Termine in bilingualen Kitas wahrnehmen, dienstagmorgens im Glauburgcafé mit der besten Freundin Latte Macchiato trinken und dabei durch die RayBan in die Sonne blinzeln. Wer hier lebt, kennt den Besitzer des Bio-Gemüseladens beim Namen und erkundigt sich nach dem Befinden seiner Frau, während er man die Demeter-Quitten in einer Papiertüte verstaut.

Ich hab hier nie gelebt, denn ich kenne seinen Namen nicht. Vielleicht ist er noch nicht einmal verheiratet. Im Nordend habe ich lediglich gewohnt. Er weiß das, denn er grüßt mich jeden Morgen, wenn ich in Gedanken versunken zu U-Bahn schlurfe. Menschen wie ihn, ohne Namen, hab ich einige getroffen während der eineinhalb Jahre in dem schmalen Streifen zwischen Eckenheimer und Friedberger Landstraße, knapp unterhalb der Nationalbibliothek. Von ein paar will ich mich verabschieden.

Der Gemüsehändler

Der Gemüseladen des kleinen dürren Südländers mit dem schütteren Haar war nicht immer Bio. Bis vor ein paar Monaten hieß der Stand noch „Fritzls Obst und Gemüse“ und die Tomaten und Radieschen kamen nicht von den Bauern der Umgebung, sondern vom Großmarkt und damit mit Sicherheit aus holländischen Gewächshäusern. Erst als sie den Laden übernahm, wurde alles anders. Sie ist Anfang 40 und hat wahrscheinlich vor ihrer Gemüseladenkarriere auch an Dienstagen Latte geschlürft und die Kinder aus der Kita abgeholt. Jetzt steht sie Morgen für Morgen mit geblümter Schürze zwischen ungewaschenen Kartoffeln und fleckigen Äpfeln, schreibt mit Kreide das Tagesangebot auf eine Schiefertafel und arrangiert Blumengestecke. Sie grüßt mich nie.

Der Pakistani

Der Besitzer des Internetcafés im Nachbarhaus grüßt mich manchmal. Jeden Abend komme ich an seinem Fenster vorbei und sehe den Pakistani ihn hinter dem Bildschirm sitzen, sein Gesicht fahl-blau angestrahlt. Manchmal nickt freundlich, manchmal bemerkt er mich nicht. Immer dann, wenn seine Familie mit vielen kleinen Kindern zu Besuch ist. Hinter den anderen Rechnern sitzen die bekannten Gestalten. Der Dicke Verschwitze mit dem grauen Afro, der sich non-stop Teenpop-Videos auf YouTube reinzieht. Oder der Russe mit den Pickeln im Genick, der sich lautstark via Skype mit seiner Frau streitet. Ich kenn sie noch von meiner Anfangszeit im Nordend – ohne Internet. Auch ich hab damals viele Stunden hinter den provisorisch aufgebauten Sperrholz-Barrikaden gesessen und geskyped, gemailt und mich von anderen beobachten lassen. Vor Kurzem bin ich wieder nach Feierabend am Internetcafé vorbeigestolpert. Das Licht war aus, der Raum leer. Nur noch die Werbung für einen türkischen Telefonanbieter klebt an der staubigen Fensterfront. Ich treffe den Pakistani am nächsten Abend in der U-Bahn. Sein Mietvertrag wurde nicht verlängert. Jetzt arbeitet er in einem Schuhgeschäft auf der Zeil. So ist das.

Der Erdbeer-Sahne-Mann

Und da gab es noch den Erdbeer-Sahne-Mann. Er saß im Sommer mit mir und 30 anderen Couchsurfern im Güntersburgpark. Ich kannte ihn nicht, so wie ich viele nicht kannte, mit denen ich dort den Abend verbrachte. Er hat Erdbeeren mitgebracht. Die Sahne darauf schmolz in der schwülen Juni-Hitze und die Früchte schwammen wie in Milch in der Tupperdose. Geredet hat er nicht viel, während er eine nach der anderen mit einer Plastikgabel herausfischte. Ganz im Gegensatz zu mir. Zu viel, zu laut, zu forsch habe ich geplappert – wie ich es immer mache, wenn ich verlegen bin. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit ist er gegangen. Ich hab ihn seitdem über Wochen immer wieder gesehen: vorm Kino, auf Straßenfesten, am U-Bahn-Gleis, direkt vor meiner Wohnung auf dem Rad. Kurzes, nichtssagendes Geplänkel – über mehr kamen wir nie hinaus.

Der Abschied

An meinem letzten Wochenende in Frankfurt ist es wieder kälter geworden. Auf den Dächern glitzert der Reif und jeder Atemzug steigt in dampfenden Schwaden in die klare Luft. Ich laufe im die Nidda entlang – am anderen Ende der Stadt, dort wo der Taunus ganz nah scheint und sich die Hochhäuser Innenstadt, wie farblose Aquarelle am bleichen Winterhimmel abzeichnen. Ich habe meine Mühe, nicht auf dem glatten Boden auszurutschen. Ich schaue kurz auf und sehe seine Augen, umrandet von einem dichten Bart und einer dicken Wollmütze. Es ist zu kalt für Erdbeeren mit Sahne. Auch er erkennt mich. Ich drehe mich um, als er an mir vorbeizieht. Er grinst und grüßt mit einer knappen Handbewegung. Wir sprechen nicht. Worüber auch?

An meinem letzten Morgen im Nordend haste über die Eckenheimer zur U-Bahn, die gerade an der Kreuzung mit lautem Klingeln zum Stehen kommt. „Hey, schöne Tag noch“, ruft mir der Gemüsehändler nach. Ich lächle und steige ein.

Danke. Schönes Leben noch. 1,5 Jahre gehen so schnell vorbei.